Mit Hilfe von Hormonen darf ein 13-Jähriger sein Geschlecht wechseln. Die Behandlung ist umstritten – und unumkehrbar



Jeden Abend nimmt Johanna das braune Fläschchen und zählt die Tropfen. Zwölf Stück darf sie zurzeit nehmen. Bald werden es sechzehn, dann zwanzig sein. Sie lässt die Tropfen in einen kleinen Becher fallen und trinkt vorsichtig die durchsichtige Flüssigkeit. Dann legt sie sich schlafen in der Hoffnung, beim Aufwachen ein bisschen mehr Mädchen zu sein.




Johanna - eine 14-jährige Transsexuelle Foto: Verlagshaus Hilby; www.hilby.org

Wer Johanna Below (Name von d. Red. geändert) sieht, hat keinen Zweifel daran, dass sie ihrem Ziel sehr nahe ist. Die Haare sind lang und dunkelblond, über der schlanken, noch kindlichen Figur trägt sie eine blaue Jacke, dazu einen kurzen Rock und Turnschuhe. Wenn Johanna lächelt, blitzt eine Zahnspange. Wenn sie sich schnäuzt, führt sie das Taschentuch mit beiden Händen behutsam zur Nase. Ein Junge würde das nicht so machen. Ein 14-jähriges Mädchen schon, eines das in Bravo und Jam am liebsten die Fotoromane liest, das in der Schule Mathe hasst und später einmal Floristin werden möchte oder Schauspielerin. „Andere Rollen zu spielen“, das gefalle ihr, sagt sie, „und wenn die Leute klatschen“.



Mit anderen Rollen hat Johanna Erfahrung, solange sie denken kann. Doch jetzt hat sie begonnen, ihr ganzes Leben unwiderruflich zu verändern. Das hängt mit den Tropfen zusammen. Es sind Östrogene, Hormone, die aus einem Mädchen eine Frau werden lassen und die Johanna fehlen. Denn sie kam als Junge zur Welt, 1990, und bis heute quält sie das, was „der kleine Unterschied“ genannt wird und in Wirklichkeit die Menschheit teilt wie nichts anderes. Das wissen insbesondere diejenigen, die auf der einen Seite geboren wurden, doch fühlen, dass sie auf die andere Seite gehören. Rund 6000 medizinisch betreute Transsexuelle gibt es laut Schätzungen in Deutschland.



Wenn sie erwachsen sind, können sie, nachdem sie längere Zeit im neuen Geschlecht gelebt haben, mit Hormonen behandelt und schließlich operiert werden: von Mann zu Frau, von Frau zu Mann. Sind sie jedoch noch Teenager oder gar Kinder, wird es schwieriger, sehr viel schwieriger. Bei Johanna wagen Hamburger Ärzte und Psychologen den Versuch. „Wir haben es uns nicht leicht gemacht“, sagt Achim Wüsthof von der Hamburger Universitätsklinik, der Johanna die Hormone verschreibt. Weltweit gibt es kaum einen Patienten, der zu einem früheren Zeitpunkt hormonell therapiert wurde. Monatelang hatte der Psychiater Wilhelm Preuss aus der Abteilung für Sexualforschung Johanna beobachtet. Er hatte nach Freunden und Hobbys gefragt, nach Ängsten und Träumen. Die Ärzte haben geschaut, wie sie spricht und sich bewegt, und im Beisein der Mutter ihr Leben aufgerollt. Am Ende musste eine vielköpfige Ethikkommission die heikle Frage beantworten: Ist eine 13Jährige reif genug, zu entscheiden, in welchem Körper sie in Zukunft leben möchte? Darf man einem Teenager geschlechtsumwandelnde Medikamente geben, deren Folgen nicht mehr rückgängig gemacht werden können? Soll man warten, ob die Pubertät Johanna vom Wunsch, ein Mädchen zu sein, noch abbringt? Oder soll die Therapie eben gerade vor der Pubertät beginnen, weil sich danach Johannas Körper so sehr verändert haben wird, dass immer sichtbar sein wird, dass sie einst ein Mann war. Jeder Weg birgt das Risiko einer späteren Katastrophe. Nur wenige ärztliche Entscheidungen sind so folgenschwer und beruhen gleichzeitig auf so unsicheren medizinischen Indizien wie die zur Behandlung eines Minderjährigen, der meint, im falschen Körper zu stecken. Denn bislang hat die Wissenschaft keine verlässlichen genetischen oder körperlichen Besonderheiten entdeckt, an denen man transsexuelle Menschen erkennen könnte. Johanna hat die genetische Ausstattung eines Jungen, sie trägt die Geschlechtsteile eines Jungen, in ihr wirken die Hormone eines Jungen. Die Ärzte müssen mit dem vorlieb nehmen, was Johanna erzählt und wie sie sich gibt.



„Geh doch zu den Mädchen“

In diesem Punkt scheint ihr bisheriges Leben kaum Zweifel zuzulassen. Johanna wünschte, ein Mädchen zu sein, seitdem sie wusste, was Mädchen und Jungen sind, erzählt ihre Mutter. Mit Vorliebe verkleidete sie sich und wollte die Kleider und Röcke auch dann nicht ausziehen, wenn anderen Kindern das Spiel längst langweilig geworden war. Im Kindergarten hielt sie sich an die Mädchen. Wurden die Jungen aufgerufen, blieb sie sitzen. Jeder Friseurbesuch wurde zum Kampf. „Sie wehrte sich, als würde man ihr sonst etwas abschneiden“, erinnert sich die Mutter. Schon bald habe sie es aufgegeben, gegen den Willen ihres damaligen Sohnes anzugehen: „Johanna war so. Es hat alles nichts genutzt.“ Für eine Zeit lang fanden Mutter und Kind einen Kompromiss: Zu Hause darfst du dich wie ein Mädchen kleiden, draußen auf der Straße ziehst du dich wie ein Junge an.



Schwieriger wurde es, als Johanna in die Schule kam. Die Jungen wunderten sich, dass ihr Klassenkamerad nie mit ihnen spielte. Irgendwann beim Sport warfen sie ihn aus der Umkleidekabine: „Geh doch zu den Mädchen.“ Das tat sie. In den Ferien, vor dem Beginn der zweiten Klasse, fiel die Entscheidung: Vom kommenden Schuljahr an kannst du in Mädchenkleidern gehen. Am ersten Tag traute sich Johanna nicht. Am zweiten fasste sie sich ein Herz und setzte sich im Kleid auf ihren Platz. Das Leben als Junge war beendet. Als sie drei Jahre später die Schule wechselte, wusste außer den Lehrern und den Klassenkameraden kaum jemand, dass Johanna einst Johannes hieß.



Eine derart ausgeprägte Rebellion gegen das angeborene Geschlecht, in der Fachsprache Cross-Gender-Verhalten, kommt bei Kindern selten vor. Die Ausbildung ihrer Geschlechtsidentität beginnt früh und bleibt in der Regel stabil. Bereits mit neun Monaten unterscheiden Säuglinge die Gesichter von Männern und Frauen, mit 28 Monaten können sie Männer und Frauen benennen, wenig später den Geschlechtern Stereotype zuordnen (stark-schwach, laut-leise). Im Kindergarten spielen sie häufiger mit ihresgleichen. Und spätestens zum Schulbeginn wissen sie, dass das Geschlecht etwas Dauerhaftes ist, das sich nicht mehr verändert. Zwar kommt es nicht selten vor, dass Jungen lieber mit Mädchen spielen, Mädchen sich wie Jungen kleiden. Solch geschlechtsatypisches Verhalten gehe jedoch „mit wachsendem Alter auf Druck der Peergroup meist rasch zurück“, sagt der Kinderpsychologe Bernd Meyenburg.



Ist das nicht der Fall, tauchen sie in Meyenburgs Sprechstunde in der Frankfurter Universitätsklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie auf. Die meisten seiner kleinen Patienten sind männlich. Der Grund: Ein Mädchen, das kurze Haare trägt, nur Hosen anzieht und mit Autos spielt, fällt nicht so sehr auf wie ein Junge, der mit einem Rock herumläuft. Vorrangiges Ziel der Gespräche ist nicht, betont Meyenburg, dass das Kind sein Geschlecht unbedingt akzeptiert. Vielmehr versuche man gemeinsam herauszufinden, wo die Ursachen der Störung liegen. So berichtet Meyenburg von einem Mädchen, das unter seinem Geschlecht litt und jahrelang als Junge auftrat. In der Therapie kam heraus, dass der Vater das Kind missbraucht hatte und es sich deshalb sicher war, als Mädchen nur unglücklich werden zu können. Solche Beispiele haben Meyenburg gegenüber dem frühen Beginn einer geschlechtsverändernden Behandlung skeptisch gemacht: „Gerade in der Pubertät kann so viel geschehen. Man sollte sie abwarten.“



Doch genau die machte Johanna panische Angst. Was ihr blühen würde, wenn ihre Mannwerdung einsetzt, hat sie an ihren Brüdern sehen können. Plötzlich beginnen Haare im Gesicht zu sprießen, die Figur schießt in die Höhe und die Breite, die Stimme bricht. „Das wollte ich auf keinen Fall“, sagt Johanna. Dann würde es unmöglich, weiter unerkannt als Mädchen durchzugehen. Die bösen Hänseleien in der Schule, die jetzt nur sporadisch auftauchten („Zwitter, verpiss dich“), würden häufiger werden. Dann sähe sie später aus wie jene erwachsene Transsexuelle, die sie getroffen hatte. „Sie lebte als Frau, doch man sah ihr an, dass sie mal ein Mann gewesen war.“



Die Angst vor der Pubertät

Als sie zwölf war und die Hoden wuchsen, beschlossen die Hamburger Ärzte nach Rücksprache mit den Psychologen, Johannas Pubertät künstlich aufzuhalten. Sie spritzten einen Wirkstoff, der die Ausschüttung von Sexualhormonen in der Hirnanhangdrüse unterdrückt. Doch das war nur der erste Schritt. Denn allzu lange darf man keinen Heranwachsenden hormonell neutralisieren. Die Therapie steht im Verdacht, den Knochenaufbau zu beeinträchtigen. Zudem laufen die Patienten Gefahr, unnatürlich in die Höhe zu schießen, weil die Sexualhormone auch dazu dienen, das Größenwachstum zu regulieren. Zudem wuchs der Druck auf Johanna, als ihre Freundinnen begannen, sich körperlich zu entwickeln – bei ihr jedoch nichts passierte.



„In der Pubertät gehen einige Mädchen und Jungen durch die Hölle“, sagt Margaret Griffiths von Mermaids, einer englischen Selbsthilfegruppe. Vielen betroffenen Teenagern fehlen die Freunde, berichtet Griffiths. Sie seien schlecht in der Schule, weil sie sich auf nichts konzentrieren können. Einige hegen Selbstmordgedanken.



So verzweifelt fühlte sich Johanna nicht. Sie hat Freunde und leidet nicht an psychischen Begleitstörungen. Doch als sie vor die Ethikkommission trat, die zu entscheiden hatte, ob sie die Hormone bekommen sollte, die sie zum Mädchen reifen lassen, fühlte sich Johanna wie vor einem Gericht, das ein lebenslanges Urteil sprechen wird. Einstimmig kamen die Experten zum Schluss, dass Johanna transsexuell sei und die ersehnten Tropfen bekommen dürfe. Dennoch wollten sich die Ärzte absichern. Mutter und Tochter mussten unterschreiben, dass alle kommenden Schritte – etwa das Wachsen einer Brust – nicht mehr rückgängig zu machen sind.



Kann sie verstehen, dass die Ärzte vorsichtig sind? „Nein“, Johanna schüttelt energisch den Kopf. „Es gibt doch viele erwachsene Transsexuelle“, ergänzt ihre Mutter. „Warum hat man die nicht alle früher behandelt?“



Auch aus diesem Grund sind sie und ihre Tochter an die Medien gegangen – um anderen Eltern Mut zu machen, eine frühere Therapie für ihre Kinder zu fordern. Fragt man operierte Transsexuelle, hört man tatsächlich neben Bewunderung für den Mut auch Neid, dass der jungen Schicksalsgenossin viele Leidensjahre erspart bleiben. „Sie hat Glück, dass der Kelch an ihr vorübergehen wird“, sagt Lena Clausen von Hansetrans, einer Hamburger Selbsthilfegruppe transidenter Menschen. Doch längst nicht alle Transsexuelle wissen bereits als Kind, dass Körper und Seele bei ihnen nicht zusammenpassen. Umgekehrt entscheidet sich nur ein kleiner Teil der Kinder mit einer Störung der Geschlechtsidentität später für eine Operation. Mitunter können sich hinter dem Missbehagen am eigenen Körper auch erste Anzeichen einer Homosexualität verbergen. Europaweit über die meisten Erfahrungen verfügt die Kinderabteilung der Universitätsklinik Amsterdam.



Transsexuelle Kinder und Jugendliche aus den ganzen Niederlanden werden hier nach strikten Regeln betreut. „Alle unsere Patienten müssen die Pubertät zumindest gespürt haben“, sagt die Hormonspezialistin Henrietta Delemarre. In der Regel werden geschlechtsverändernde Hormone erst den 16-Jährigen verabreicht. Die Holländer haben Erfolg, bislang musste keine Behandlung abgebrochen werden, weil ein Jugendlicher es sich während der Therapie anders überlegt hätte.



Ihre große Patientenzahl soll den niederländischen Ärzten nun ermöglichen, die biologische Basis der Transsexualität zu ergründen. Die heißeste Spur führt die Forscher ins menschliche Hirn. Hier hat Delemarres Kollege, der Endokrinologe Louis Gooren, bereits vor einigen Jahren auffällig vergrößerte Nervenknoten bei Männern entdeckt, die im Laufe ihres Lebens zur Frau geworden waren. Das Problem der Studie: Gooren hatte nur sechs (tote) Patienten untersucht – eine zu kleine Gruppe, um allgemeingültige Aussagen machen zu können. Mit modernen Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) oder dem Magnetresonanzverfahren (MRI) wollen die Amsterdamer Experten nun im Hirn junger Patienten nach Besonderheiten suchen.



Vielleicht lässt sich irgendwann aufgrund anatomischer Besonderheiten eine Art „cerebralen Zwittertums“ feststellen. Während das Gehirn dem einen Geschlecht angehört, tendiert der Rest des Körpers zum anderen. Ein solches Merkmal könnte den Ärzten helfen, mit größerer Gewissheit schon früh eine Transsexualität zu diagnostizieren.



Auf den letzten Schritt jedoch müssten die betroffenen Kinder und Jugendlichen auch dann noch warten. Die Geschlechtsangleichung mit Skalpell und Messer wird ihnen aus gesetzlichen Gründen verwehrt, bis sie volljährig sind. So lange muss auch Johanna ausharren. Bis dahin wird sie bei jedem Toilettengang daran erinnert, dass sie anders ist. Sie muss beim Schwimmen eine enge Hose unter der Bikinihose tragen und beim Shopping darauf achten, dass sie Kleidung kauft, die „das da unten“ nicht allzu sichtbar werden lässt.



Zumindest ihren Vornamen kann sie bereits offiziell ändern, damit auch der letzte Lehrer in ihrer Schule sie nicht mehr mit Johannes anreden darf. Das Verfahren läuft gerade. Wenn sie Bilder vom kleinen Jungen mit diesem Namen heute sieht, erkennt sie sich längst nicht mehr wieder. „Ich denke dann immer, das ist mein Bruder.“



von Martin Spiewak

Quelle: DIE ZEIT 23/2004




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