"Die denken, ich bin verrückt"

Michelle steckt im falschen Körper, ist außen Mann und innen Frau. Uns hat sie erzählt, wie sie damit klarkommt, wie sich's anfühlt und warum der Schwanz auf alle Fälle ab muss.


"Morgens aufwachen und im Körper einer Frau stecken." Das ist Michelles größter Wunsch und zugleich die einzige Möglichkeit für sie, ihren inneren Frieden zu finden. Biologisch hat sie einen männlichen Körper, geistig und gefühlsmäßig war sie schon immer eine Frau: Michelle ist Mann-zu-Frau transsexuell. "Nur in der Frauenrolle kann ich glücklich sein und seelisch zufrieden werden", sagt sie. Transsexualität ist Wunsch und Zwang gleichzeitig. Michelle möchte und kann aber auch nicht anders.


Michelle transsexuell

Seit ihrem "Outing" vor 6 Jahren versucht sie, ihr "falsches" Äußeres ihrem "richtigen" Inneren anzupassen. Und was war vorher? Michelle fühlt sich falsch, Frauen um sich rum beobachtet sie neidvoll, versuchte, Verhaltensweisen zu kopieren, den weiblichen Gang, Mimik, Sprache nachzumachen. Ein langer Prozess, der wahrscheinlich nie abgeschlossen sein wird. "Manchmal gibt mir meine Freundin - auch ein TransMann - Tipps, was ich an mir noch verbessern, sprich weiblicher machen kann." Kleidung, Gestik, Mimik, das gesamte Rollenverhalten - Michelle findet alles an Frauen erstrebenswert, "will das Weibliche ausleben und sich vollkommen damit identifizieren."


Woher kommt dieser Irrtum der Natur? Die Wissenschaft weiß es nicht. Wie bei Homosexualität schwankt die aktuelle Forschung zwischen genetischen Ursachen und frühkindlicher Prägung. Fakt ist: Da Transsexuelle mit ihrem Körper geboren werden (mit was auch sonst), ist es zunächst kein falscher Körper. Erst durch die Reflexion mit der Umwelt erleben sie, dass ihr Körper zwar der Norm der Geschlechtszuweisung entspricht, nicht aber der Norm der erlebten Identität. Daraus entsteht bei den meisten Betroffenen ein sehr tiefgreifender Leidensdruck, der so groß ist, dass sie einen extrem schwerwiegenden Eingriff auf sich nehmen: die Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau. Auch Michelle hat Ende des Jahres einen OP-Termin.


Operativer Komplett-Umbau

Keine Frage: Der Kampf gegen Natur ist ein aufwendiger. Michelle lässt alles medizinisch Machbare an sich machen, um endlich ganz Frau zu sein. Psychologische Gutachten, Epilation, jahrelange Hormonbehandlung - klingt nach ziemlicher Tortur, was sie über sich ergehen lässt. Sie erklärt mir die unterschiedlichsten Epilations-Möglichkeiten, erzählt detailliert, was bei der Geschlechtsumwandlung genau gemacht wird. Das Wichtigste, logisch: der Schwanz muss ab. (Bei der bildlichen Vorstellung wird mir ein bisschen schlecht und ich kneife unwillkürlich die Beine zusammen). Michelle hat "ihr Teil" immer abgelehnt. Jetzt freut sie sich auf ihre "neue" Vagina. "Die ist danach voll funktionstüchtig und sogar orgasmusfähig", erzählt sie freudig. Ein wenig eingeschränkt schon: Von den 4 000 Nervenendigungen einer Penisspitze bleiben nur ca. 2 000 übrig. (Zum Vergleich: eine normale Klitoris besitzt ca. 8 000 Nervenendigungen).


Michelle ist optimistisch, hat sich nie von Psychologen beeinflussen lassen. Andere Transsexuelle haben weniger Glück ....


Vom Selbsthass zum Selbstmord

Viele Transsexuelle versuchen ihre innere Zerrissenheit zu verdrängen, bekämpfen das Dauer-Unwohlsein mit Alkohol und Drogen, verstümmeln sich aus Selbsthass selber und begehen in vielen Fällen Selbstmord, weil sie an falsche Psychologen geraten. "Leute", meint Michelle, "für die Transsexualität etwas ist, was es eigentlich nicht geben darf." Michelle kompensierte ihren Geschlechts-Konflikt mit Fressattacken, zeitweise wog sie 130 Kilo. "Viele Psychologen denken, man könne Transsexualität weg therapieren. Das Gegenteil ist ihrer Meinung nach der Fall: "Transsexualität ist die einzige psychische Krankheit, die nur durch eine Operation geheilt werden kann." Viele Leute um sie rum haben extreme Vorurteile. "Die denken, dass wir nicht voll zurechnungsfähig sind, verrückt eben, die wollen sich nicht mit mir blicken lassen." Michelle hat sich unter anderen Menschen nie wohlgefühlt. Es gab niemand, dem sie sich mit ihrem Problem anvertraut hätte. Ihre Eltern haben die Transsexualität bis heute nicht akzeptiert. "Transsexuelle sind in der Regel Außenseiter." Einige Bekannte wendeten sich nach dem Outing von ihr ab. "In der Not trennt sich nun mal die Spreu vom Weizen", sagt sie abgeklärt. Die Gesellschaft tut sich leider schwer, wenn's um die Akzeptanz von Menschen geht, die nicht der Norm entsprechen. Anfeindungen gehören zu ihrem Leben.


Attacke in der U-Bahn

Eines der schlimmsten Erlebnisse: Ein Jugendlicher attackiert sie in der U-Bahn und rechnet nicht damit, dass der Transsexuelle sich wehren kann. "Wenn ich wütend werde, steigt mein Adrenalinspiegel, wer mich angreift, sollte sich das vorher genau überlegen", erklärt sie wütend und sehr bestimmt. "Der in der U-Bahn hatte Glück, dass ich keinen Schirm dabei hatte, sonst hätte er vorzeitig auf Eiersuche gehen können!" Derartige Übergriffe, Beleidigungen und blöde Bemerkungen hat sie schon des Öfteren erlebt. Aber auch durchaus positive Erlebnisse gehören zu den Reaktionen der Umwelt. "Einmal haben mich zwei Skinheads interessiert angesprochen, daraus hat sich dann ein nettes Gespräch entwickelt."


Was ihre Zukunft betrifft, hofft Michelle, dass nach der Operation alles besser wird - auch beruflich. Im Moment ist sie arbeitslos, jobbt an einer Tankstelle, möchte eine Umschulung zur Systemadministratorin machen. Die Arbeitszeugnisse sind umgeschrieben, ein neuer Ausweis ist beantragt.


Bald, so hofft sie, wird sie rundum glücklich sein, wenn alle Spuren ihres männlichen Lebens beseitigt sein.


Quelle: Audimax 06/2003
Text: Josefine Huber


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